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Würdevolles Leben mit Demenz im Thurgau

Ein Interview mit Frau Dr. med. Irene Bopp-Kistler zu dem Thema "Demenz aus der Sicht der Angehörigen". Sie spricht an der öffentlichen Informationsveranstaltung am 11. April. Der Eintritt ist frei.

Würdevolles Leben mit Demenz im Thurgau

Frau Dr. med. Irene Bopp-Kistler beim Interview mit Werner Lenzin in der mediX Gruppenpraxis in Zürich. René Künzli

Im zweiten Jahr der kantonalen Sensibilisierungs-Kampagne, die von der terzStiftung durchgeführt wird, lautet das Thema "Demenz aus der Sicht der Angehörigen". In diesem Zusammenhang führten wir ein Gespräch mit Frau Dr. med. Irene Bopp-Kistler.

Frau Dr. med. Irene Bopp-Kistler spricht zudem an der öffentlichen Informationsveranstaltung vom Donnerstag, 11. April, welche um 14 Uhr im Thurgauerhof in Weinfelden beginnt. Der Eintritt ist frei. Fast drei Jahrzehnte hat Dr. Irene Bopp-Kistler in der Memory Clinic des Stadtspitals Zürich Waid Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen begleitet - auf dem Weg zur Diagnose und darüber hinaus. Obwohl sie seit 2024 pensioniert ist, unterstützt sie Ratsuchende noch immer in einer medix Gruppenpraxis. 

Welche Anzeichen, die Angehörige wahrnehmen, könnten auf eine beginnende Demenz hindeuten? Was raten Sie ihnen?

Häufig spüren die Angehörigen im Alltag, dass gewisse Tätigkeiten nicht mehr möglich sind. Man vergisst Dinge, die vorher selbstverständlich waren oder die Einnahme von Medikamenten. Der geliebte Mensch verändert sich emotional, zeigt eine gewisse Antriebslosigkeit, verlegt Dinge und leidet unter Wortfindungsstörungen. Dabei möchte ich klar darauf hinweisen, dass das gelegentliche nicht Finden von passenden Wörtern und das Vergessen von Namen noch keine Indizien sind. 

Welche Vorteile für die betroffene Person und ihre Angehörigen ergeben sich dank einer frühzeitigen diagnostischen Abklärung? Weshalb ist das Diagnose-Gespräch so wichtig?

Eine beginnende Demenz führt oft zu Konflikten und Unverständnis in der Partnerschaft. Man kann die Symptome besser einordnen und versteht den Umgang mit dem Mitmenschen besser, wenn man möglichst umfassend über die Krankheit informiert ist.

Wenn bei einem Familienmitglied Demenz diagnostiziert wird, ist das für alle ein Schock. Was raten Sie den Angehörigen, wie sie sich gegenüber dem Betroffenen verhalten sollten?


Für Einzelne bedeutet es einen Schock. Für den Grossteil aber einen eigentlichen Stressabbau, weil endlich Klarheit da ist. Für die Partnerin oder den Partner kann die Diagnose für eine Erleichterung sorgen. Diese öffnet die Türe insofern, als man den Symptomen einen Namen geben kann. 

Partnerschaft und Demenz: Der "gesunde" Partner empfindet die Demenzerkrankung häufig wie einen "Abschied auf Raten". Was ist der Unterschied z.B. gegenüber einer unheilbaren Krebsdiagnose?

Bei einer unheilbaren Krebsdiagnose haben alle dasselbe Wissen und man kann miteinander Abschied nehmen. Anders bei der Diagnose Demenz, wo man den Partner oder die Partnerin langsam verliert und die Betroffenen und Angehörigen die Situation anders wahrnehmen.

Welche unterstützenden Massnahmen empfehlen Sie den Angehörigen, um den Alltag für Demenzkranke wertschätzend und angenehm zu gestalten?

Das Allerwichtigste ist das Verständnis. Dieses möchten die Angehörigen anstelle von Ratschlägen. Sie brauchen Freiräume zwischendurch, beispielsweise ein bis zwei Tage pro Monat. Es gilt bei den Angehörigen hinzuhören, was ihnen am meisten hilft. 

Was sind die grössten Herausforderungen für die betreuenden Angehörigen, die sich um Demenzkranke kümmern?

Dass man einen Menschen verliert und dieser nicht mehr derselbe ist: Die Menschen sind nah und doch so fern. Das Abschiednehmen in Raten von einer sich verändernden Person und der Umgang mit deren nachlassenden Kräften. Wichtig ist ein offenes Kommunizieren gegenüber Freunden, Verwandten und Bekannten. 

Wie können sich betreuende Angehörige davor schützen, dass sie nicht in ein Burnout, in eine krankmachende Leere fallen?

Ich wiederhole gerne nochmals die offene Kommunikation. Jeder braucht Auszeiten. Es ist schön, wenn man Freunde findet, die mit der demenzerkrankten Person z.B. einen Spaziergang in der Natur machen und so auch dem Bewegungsdrang Erkrankter entgegenkommen. 

Gibt es innovative Ansätze oder Technologien, die zur Verbesserung der Lebensqualität von Demenzpatienten beitragen können?

Bei einer Demenz bleibt das musikalische Gedächtnis bewahrt. Musik ist Balsam für die Seele. Auch das Tanzen ist neben dem Singen eine hervorragende Tätigkeit. Mit dem Singen wird zudem die Sprache stimuliert. In Zürich wurde sogar ein Chor (Weischno-Chor) für Menschen mit Demenz und ohne Demenz gegründet, der sich eines grossen Zuspruchs erfreut. Natürlich können auch digitale Technologien (GPS) zur möglichst langen Autonomie von Betroffenen beitragen.

Wie wichtig ist es, die Angehörigen im Behandlungsprozess menschlich und fachlich zu begleiten und miteinzubeziehen?

Angehörige sollten möglichst viel über die Krankheit wissen und Kenntnis darüber haben, weshalb ihr Partner oder ihre Partnerin so reagiert. Man darf auch einmal wütend sein, und wichtig ist das Normalisieren.

Welche Rolle spielen Lebensstilfaktoren wie Ernährung, Bewegung und geistige Aktivität in Bezug auf das Risiko der Entwicklung von Demenz?

Alles, was dem Herz guttut, ist auch für das Gehirn gut. Dies geht auch aus der 2020 erschienenen Lancet-Studie hervor. Es gilt zudem, dem Gehör vermehrte Aufmerksamkeit zu schenken und unter anderem auch durch das Helmtragen ein Schädel-Hirntrauma zu verhindern. Das Integrieren in die Gesellschaft in Verbindung mit emotionalen Kontakten und das Verhüten von Einsamkeit haben einen hohen Stellenwert. 

Gibt es mutmachende, inspirierende Beispiele, wie sich das Leben der betroffenen Person und ihrer Angehörigen durch richtige Unterstützung verbessert hat?

Die noch vermehrt anzustrebende Inklusion in unserer Gesellschaft, so wie beim erwähnten Mitsingen in einem Chor, das Dabeisein an einem Mittagstisch und an gesellschaftlichen Anlässen. 

Was sind aus Ihrer grossen Erfahrung die wichtigsten Empfehlungen, die Sie Angehörigen weitergeben können?

Offen darüber reden, Gespräche führen über Dinge, die den Angehörigen guttun. Wichtig ist auch das Wegstecken von Schuldgefühlen, wenn eine Heimeinweisung unumgänglich wird. Diese kann auch positive Stimulationen auslösen. Kein Mensch ist ein Übermensch. 

Sie sind nahe an der Forschung. Immer wieder kommen Meldungen, die das "Heilmittel" gegen Demenz ankündigen. Wie beurteilen Sie, als anerkannte Fachärztin, den Forschungsstand?

Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich das Medikament Lecanemab erwähnen (in der Schweiz noch nicht zugelassen), das helfen kann, die Eiweissablagerungen im Gehirn zu reduzieren, die Wirkung ist aber relativ bescheiden und es kann schwere Nebenwirkungen auslösen. Es gibt bereits Medikamente, die bei den Betroffenen eine gewisse Verzögerung des Krankheitsverlaufs bewirken können. Aus meiner Sicht ist aktuell leider immer noch nicht der grosse Durchbruch geschafft, ich hoffe aber, dass sich das in Zukunft ändern wird. Ich verweise hier auf mein Buch: "demenz. Fakten Geschichten Perspektiven" rüffer & rub Sachbuchverlag 2022.

Verfolgen Sie die Demenz-Kampagne online unter www.demenz-terzstiftung.ch

Interview: Werner Lenzin